Training bis zum Muskelversagen gehört im Bodybuilding und Kraftsport so selbstverständlich dazu, wie das Amen in der Kirche. Der typische Bodybuilding Lifestyle suggeriert dir, dass du immer bis ans Maximum gehen sollst. Willst du ein echter Kerl sein (oder eine echte Power-Lady) trainierst du bis zum Muskelversagen. Diese Weisheit wird in den Fitnessstudios von einer Generation an die nächste weitergegeben. Doch was sagt eigentlich die Sportwissenschaft zum Training bis ans Muskelversagen? Welche realen Vorteile und Nachteile bietet es dem Athleten? Antworten erhältst du in diesem Artikel.
Fangen wir zunächst mit der schlechten Nachricht an. Am besten, du setzt dich dazu erstmal hin. Du sitzt schon? Dann steh lieber auf! Die Wahrheit ist: Nicht alles was traditionell überliefert wird, stimmt auch.
Allgemeines Aufwärmen
Auch wenn der Gedanke ans Maximum zu gehen gar nicht so verkehrt ist, wie du unten noch erfahren wirst – keine Maschine und kein Organismus der Welt ist dafür gemacht, permanent ans Maximum zu gehen. Obwohl ein PKW es problemlos aushält, wenn die Drehzahlen immer mal in den roten Bereich geraten, würde wohl nur ein Wahnsinniger seinen Motor ununterbrochen hochdrehen lassen.
Nur weil sich ein Training besonders intensiv anfühlt, bedeutet das nicht, dass es mehr Muskelwachstum bringt. Beispiel: 30 Wiederholungen einer Übung mit leichtem Gewicht fühlen sich für die meisten Menschen intensiver an als 10 Wiederholungen mit vergleichsweise schwerem Gewicht. Trotzdem setzen die subjektiv leichteren 10 Wiederholungen mit dem schweren Gewicht effektivere Reize in Punkto Muskelaufbau. Intensiv anfühlen und effektiv sein sind demnach zwei unterschiedliche Paar Schuhe.
Somit hätten wir uns geistig aufgewärmt und können nun Nägel mit Köpfen machen:
Nachteile
Muskelversagen strapaziert das Nervensystem
Beim Hypertrophietraining gibt es ein kleines Problem, das unseren Körper vor gewisse Herausforderungen stellt: Nicht alle beteiligten Körpersysteme regenerieren gleichschnell. Im Klartext heißt das: Das Nervensystem regeneriert generell langsamer als die Muskulatur. Je stärker das Nervensystem strapaziert wird, umso weiter klafft die Schere auseinander.
Die Leistungsfähigkeit eines Muskels hängt stark vom Zustand der Nerven ab, die ihn aktivieren. Ein Nerv, der nicht vollständig regeneriert ist, kann nicht so effektiv Nervenimpulse aufbauen. Ergo ist auch das Training in so einem Zustand weniger effektiv. Über lange Sicht erhöht sich zudem das Risiko, ins nervale Übertraining zu geraten.
Was passiert überhaupt beim Muskelversagen?
Bei intensiven Belastungen fällt im Muskelstoffwechsel Laktat als Abfallprodukt an. Dieses kann nicht sofort abtransportiert werden und sammelt sich während eines Satzes im Muskel an. Das Laktat hemmt die Energiebereitstellung im Muskel. Sobald eine kritische Laktatkonzentration im Muskel erreicht ist, steht vorübergehend keine Energie für die Muskelkontraktion mehr zur Verfügung. Das Muskelversagen setzt ein.
Interessant für uns ist das, was in den letzten 1-2 Wiederholungen vor dem Muskelversagen passiert. Der Körper aktiviert normalerweise nicht alle Muskelfasern gleichzeitig. Stattdessen wechseln sich die Fasern im Muskel gegenseitig ab. Dadurch kann der Nerv für sekundenbruchteile „verschnaufen“ bevor er die Muskelfaser erneut aktiviert. Kurz vorm Muskelversagen lässt die Kraft jedoch so stark nach, dass der Körper das Kraftniveau nur noch dadurch aufrechterhalten kann, dass er so viele Muskelfasern wie möglich gleichzeitig aktiviert. Dadurch müssen die einzelnen Nerven sozusagen ein „Dauerfeuer“ abliefern. Das Nervensystem brennt förmlich aus und braucht lange um sich davon zu erholen.
Merken brauchst du dir bloß folgendes:
Aus wissenschaftlicher Sicht macht es daher mehr Sinn, 1-2 Wiederholungen vor dem Muskelversagen den Satz zu beenden. Dadurch regenerierst du schneller und stellst sicher, dass du beim nächsten Training wieder volle Leistung bringst.
Vielleicht ist es dir schonmal so ergangen, dass du unfreiwillig einige Tage Trainingspause hattest und danach plötzlich eine ungewöhnlich gute Leistungssteigerung bemerkt hast. Das Phänomen erklärt sich durch die verlängerte Regenerationszeit des Nervensystems.
Trotz dieser Niederschmetternden Tatsachen hat Training bis zum Muskelversagen auch mit einigen positiven Seiten aufzuwarten.
Vorteile
Obwohl Training bis zum Muskelversagen keinen effektiveren Trainingsreiz setzt, bietet es dennoch einige reale Vorteile, die oftmals vernachlässigt werden.
Kontrolle der Trainingsfortschritte
Es ist wichtig deine Fortschritte im Training im Auge zu behalten. Training bis zum Muskelversagen stellt die einfachste Möglichkeit der Erfolgskontrolle dar. Trainierst du nicht bis zum Muskelversagen, müsstest du regelmäßig Krafttests durchführen. Der Nachteil dabei ist, dass du erst im Nachhinein siehst, wie effektiv ein Trainingszyklus war. Gehst du dagegen bis zum Muskelversagen, kannst du bei jeder Trainingseinheit in Echtzeit deine Fortschritte verfolgen. So erkennst du frühzeitig, wenn es nicht so gut läuft und kannst sofort Änderungen an deinem Training oder deiner Ernährung vornehmen.
Vermeiden von Unterforderung
Selbst für erfahrene Trainierende ist es schwer, einzuschätzen, wie sich der Muskel genau zwei Wiederholungen vorm Muskelversagen anfühlen muss. Das macht vor allem beim Steigern der Gewichte Probleme. In der Praxis kommt es häufig vor, dass Athleten sich im Laufe einiger Wochen immer weiter vom Muskelversagen entfernen, ohne es zu merken, weil sie ihre Gewichte zu wenig steigern. In diesem Fall unterforderst du dich und es wird tatsächlich ein schwächerer Trainingsreiz gesetzt. Training bis zum Muskelversagen stellt dagegen sicher, dass du dich nicht unterforderst.
Mehr Motivation und mentale Ausgeglichenheit
Motivation ist ein wichtiger Faktor im Training, der häufig unterschätzt wird. Fehlt es an der nötigen Motivation, sind optimale Fortschritte unmöglich.
Bis an deine Grenzen zu gehen und darüber hinauszuwachsen, ist ein sehr motivierendes Gefühl. Eingefleischte Kraftsportler und Bodybuilder macht dieses Gefühl regelrecht süchtig. Kein Wunder – schließlich handelt es sich dabei um ein Erlebnis, das der menschliche Geist regelrecht braucht. Der Mensch ist an ein urzeitliches Leben angepasst, in dem er jeden Tag aufs Neue um sein Überleben kämpfen, die Urgewalten bezwingen und über sich selbst hinauswachsen musste. Dabei war es unvermeidbar, dass er – nicht ständig, aber regelmäßig – an die Grenzen seiner Muskelkraft kam. In der Steinzeit wäre es undenkbar gewesen, den Höhlenbären zu bitten, er möge doch erst morgen wiederkommen um die Kinder zu fressen, weil du gerade zwei Speerwürfe vorm Muskelversagen stehst und jetzt nicht weiterkämpfen möchtest.
Unser gesamter Hormonhaushalt und unsere Psyche sind noch immer auf das Leben in der Urzeit angepasst. Unser Geist benötigt nach wie vor Erfolgserlebnisse, die wir aus der Überwindung von Grenzen ziehen. Doch wir haben unsere Umwelt radikal verändert. Situationen, die uns an unsere Grenzen führen, haben wir im Alltag einfach wegrationalisiert. Dadurch fehlt uns etwas, wofür wir eigentlich geschaffen sind. Die Folge ist, dass wir unzufrieden mit uns selbst und mental unausgeglichen sind.
Das Gefühl der erfolgreichen Selbstüberwindung kann uns aber der Sport zurückgeben. Ein Training, das dich ausreichend fordert, ist wie ein Kampf gegen die Naturgewalten (Schwerkraft ist eine Naturgewalt). Du bist motiviert und konzentriert bei der Sache und hinterher mental ausgeglichen. Du bist stolz auf dich und darauf, einmal mehr gegen das Eisen triumphiert zu haben. Du gewinnst dadurch an Selbstbewusstsein und mentaler Stärke. Du beginnst, dich wieder wie ein würdiger Mensch zu fühlen.
Am stärksten ausgeprägt ist dieses Gefühl, wenn du tatsächlich bis an deine körperlichen Grenzen herangehst, nämlich bis zum Muskelversagen. Je weniger du beim Training kämpfst, umso schwächer ist es ausgeprägt.
Training bis zum Muskelversagen ja oder nein?
Wie du siehst kann man Training bis zum Muskelversagen weder so recht bejahen noch verneinen. Wie sagte schon Albert Einstein? „Alles ist relativ.“
Aufgrund meiner Erfahrungen als Trainer kann ich dir folgende Empfehlungen geben:
Anfänger
Anfänger in ihrem ersten halben Trainingsjahr sollten nicht bis zum Muskelversagen trainieren. In dieser Phase bieten sich noch keine Vorteile.
Die Gefahr, dich zu überlasten ist noch vergleichsweise hoch, da dein Körper sich überhaupt erst auf die Trainingsbelastungen einstellen muss. Die Gefahr dich zu unterfordern ist dagegen vergleichsweise gering. Eben weil die Belastung für deinen Körper noch neu und intensiv ist, wird nahezu jedes Training auch Muskelwachstum hervorbringen. Auch wenn du dich versehentlich etwas unterforderst, wirst du als Anfänger immernoch gute Fortschritte machen. In dieser Hinsicht gelten für Anfänger andere Regeln als für Fortgeschrittene.
Der Aspekt der Motivation durch Training bis zum Muskelversagen, spielt bei Anfängern ebenfalls noch keine Rolle. Am Anfang bist du sowieso hoch motiviert, weil das Training und der ganze Lifestyle neu und aufregend für dich sind. Motivationsplateaus stellen sich normalerweise erst später ein, wenn die „Schmetterlinge im Bauch“ verschwunden sind. Solltest du schon am Anfang Probleme mit der Motivation haben, würde auch ein Training bis zum Muskelversagen daran nichts ändern. In dem Fall müsste man genauere Ursachenforschung betreiben.
Geübte, Fortgeschrittene und weit Fortgeschrittene
Sobald du im Training sattelfest bist, bietet es sich an, regelmäßig zwischen Training bis zum Muskelversagen und Training ohne Muskelversagen zu wechseln. Du kannst entweder von einer Trainingseinheit auf die nächste oder wellenförmig in längeren Zeitabschnitten wechseln.
Nach dem Weider Trainingsprinzip der Progressiven Belastungssteigerung, sollte dein Training stetige Steigerungen durchlaufen, damit dein Körper sich nicht an einen Reiz gewöhnen kann. Dabei kannst du über verschiedene Belastungsparameter steigern. Eine Möglichkeit besteht darin, über Training ohne Muskelversagen hin zum Training mit Muskelversagen zu steigern.
Das könnte etwa so aussehen:
Angenommen, du trainierst für die Dauer von 6 Wochen nach einem Trainingsplan, dann trainierst du davon die ersten 3 Wochen nicht bis zum Muskelversagen. In dieser Zeit baust du weiterhin Muskeln auf, gibst aber gleichzeitig deinem Nervensystem ausreichend Raum zum Regenerieren. Für die folgenden 3 Wochen kannst du dann einen regelrechten Steigerungsschub deiner Trainingsgewichte herausschlagen, indem du nun bis ans Muskelversagen gehst. In dieser Zeitspanne summiert sich die Belastung für dein Nervensystem noch nicht so stark auf. Nach Beendigung des Trainingszyklus gibst du deinem Nervensystem wieder Raum, sich ordentlich durchzuregenerieren. Du startest mit veränderten Wiederholungszahlen und beginnst den neuen Zyklus wieder ohne Muskelversagen. Gegebenenfalls schaltest du sogar eine krafttrainingsfreie Regenerationswoche zwischen.
Gesundheitssportler
Wenn es dir nicht um maximalen Muskelaufbau geht, sondern du einfach nur einen gesunden und aktiven Fitness-Lifestyle pflegen möchtest, ist Training bis zum Muskelversagen nicht notwendig. Solltest du dich mit den Trainingsgewichten etwas nach unten verschätzen, ist das nicht so schlimm. Einzig aus Gründen der Motivation könntest du es gelegentlich mit Training bis zum Muskelversagen versuchen – musst aber nicht.
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Das Training bis zum Muskelversagen ist schon ein Streitthema. Ich denke auch, dass es besser ist, nicht immer bis ans Muskelversagen zu gehen oder noch extra drüber hinaus. Bei vielen Kollegen im Gym redet man da aber leider vor eine Wand.